Guðjón Ólafssons Zeitreise als Laborratte

Das „Sagenhafte Island“ ist dieses Jahr Ehrengast der Frankfurter Buchmesse; in diesem Zusammenhang hatte blogg-dein-buch.de in letzter Zeit überdurchschnittlich viele isländische Werke im Angebot der zu rezensierenden Bücher. Eines davon hat mich – wie auch bei der letzten Runde – wegen des Themas „Zeitreise“ natürlich besonders angesprochen; ich durfte inzwischen tatsächlich ein Rezensionsexemplar des Romans mit dem oben genannten Titel genauer unter die Lupe nehmen.
Hermann Stefánsson – von dem ich, nachdem ich im Gegensatz z.B. zu meiner Schwägerin, (noch) keinen speziellen Draht zu Island habe, ehrlich gesagt noch nichts gehört oder gelesen hatte – hat mit dem Roman Guðjón Ólafssons Zeitreise als Laborratte 2008 offenbar bereits das dritte Buch herausgebracht, das von den Protagonisten Guðjón Ólafsson und Helena erzählt. In diesem Roman hat Guðjón nach einem Unfall – oder war es ein Überfall? – sein Gedächtnis und zunächst auch seine Sprachfähigkeit verloren. Nach und nach muss er sich sein Leben wieder erschließen. Seine Freundin Helena, in deren Perspektive regelmäßig gewechselt wird, kommt mit alledem nicht klar und zieht sich in ihrem Job als Übersetzerin aufs Land zurück wo eine krimiartige Nebenhandlung eröffnet wird, die sich erst um einiges später wieder etwas unmittelbarer mit Guðjóns Erzählfaden verknüpft. Er dagegen wird Teil (oder ist er es bereits geworden? Raum- und Zeitverwirrung greifen hier sehr leicht auf den Leser über…) eines bizarren Experiments, verbunden u.a. mit der umstrittenen Urknall-Forschung im Schweizer CERN-Labor, das schon einmal für einen Zeitreise- oder vielmehr „-Stillstand“-Roman („42“ von Thomas Lehr) herhalten musste. Er erlebt dabei Visionen bzw. Erfahrungen und Erinnerungen aus Sicht von geschichtlichen Personen… bis in die Zeit Jesu Christi!
Zu bemerken ist, dass der Verlag mit dem Titel einen „Spoiler“ produziert hat – das kann man auch dem Klappentext, ähnlich wie bei meiner letzten Rezension, anlasten: Die Hinweise, dass es nämlich im Grunde nicht nur um die Geschichte eines Mannes mit Gedächtnisverlust geht, der – aus welchen Gründen auch immer – „Erinnerungen an die Vergangenheit“ anderer Menschen hat, sondern eben um ein beabsichtigtes Zeitreiseexperiment, sind im Text sehr subtil verborgen. Ab und an streuen die Figuren, mit denen Ólafsson interagiert, das Thema ein, und auch er selbst philosophiert unter anderem über die Zeit und diesbezügliche physikalische Experimente – aber doch meistens eher durch das Gedankenwirrwar in seinem Gehirn motiviert: Dass da wirklich ein Zusammenhang besteht zwischen den Spritzen seines Arztes und den Experimenten im CERN, und dass es dabei wirklich um Bewusstseins-Zeitreisen geht, wird erst in der zweiten Hälfte des Romans so richtig klar – aber der Effekt dieser langsam einsetzenden Erkenntnis wird durch den sperrigen deutschen Titel m.E. verdorben. Zum Vergleich: Das Original hieß einfach und kurz „Algleymi“, was soviel bedeutet wie „Entzücken“, „Euphorie“, im englischen Titel des Buches – ebenfalls nur in einem Wort – auch als „Nirvana“ oder „Vergessen(heit)“ übersetzt. Ansonsten kann die erst 2011 erschienene deutsche Fassung aber in jeder Hinsicht glänzen: Der Übersetzer Richard Kölbl schafft es, sowohl wissenschaftliche Sprache als auch kulturelle Anspielungen ebenso wie die Sprachspielereien – ja zu Beginn auch einfach Sprachfetzen zu nennen, die unter anderem die Tatsache illustrieren, dass Guðjón Ólafssons Sprachzentrum durch den Unfall gelitten hat – mit einer Leichtigkeit ins Deutsche zu übertragen, die einen vergessen lässt, dass es sich nicht um einen Originaltext handelt. Das Buch mag nicht immer einfach zu „verdauen“/verstehen sein, aber für mich als Bewunderer auch experimenteller sprachlicher Finesse war es auf der Bahnfahrt, während der ich es gelesen habe, definitiv mehr Genuss als Anstrengung. In einem 5-Sterne-System würde ich ihm „nur“ 4 statt 5 Sterne geben, um meine Bewusstheit dessen zum Ausdruck zu bringen, dass das durchaus nicht für jeden Leser so sein mag – auch hier noch einmal der Hinweis auf „42“, das manchen Leser vor ähnliche Probleme stellt.
Der Roman wird auf dem Klappentext übrigens als „Ideen-Thriller“ bezeichnet, was insofern treffend ist, als neben der Haupthandlung eben immer wieder philosophiert wird, sei es über das Verständnis der Menschen von ihrer Geschichte oder das Wesen der Zeit allgemein – eins der Beispiele hat es mir besonders angetan, stellt der Autor doch den Vergleich zwischen einem Spiegel als Fenster in die unmittelbare Vergangenheit (schließlich brauchen Licht- und Nervensignale ja ein bisschen Zeit, bis sie in den Spiegel und wieder hinaus respektive von den Augen ins Gehirn gewandert sind und ich mein Spiegelbild wahrnehmen kann) und der leichten Zeitverzögerung, mit der Rundfunksender ihre Ausstrahlungen versehen, um gegebenenfalls z.B. verbale „Ausrutscher“ ihrer Moderatoren abfangen zu können – meine Erfahrungen mit der entsprechenden Vorrichtung habe ich bereits selbst in einer Kurzgeschichte verarbeitet 😎
In der Kritik wird, wie netzseitig zu lesen ist und, wie ich denke, ganz zu Recht, die Qualität des „avantgardistischen Werkes“ in der isländischen wie auch „egozentrischen Literatur“ und damit verbunden Hermann Stefánssons feiner Sinn für Humor einhellig gelobt. Von der Erwähnung stark Science-Fiction-lastiger Passagen abgeschreckte Leser vorliegender Rezension mögen beruhigt sein, denn sie können jenen m.E. in der Summe nicht ersticken.
Bestellen kann man das Buch natürlich über Amazon oder direkt beim Verlag; in beiden Fällen ist das Ganze portofrei! Ich bedanke mich wieder einmal bei BloggDeinBuch.de sowie beim Litteraturverlag (sic) Roland Hoffmann für die Vermittlung bzw. Zurverfügungstellung eines Rezensionsexempars.

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